Unter Lärchen
Kurzgeschichte
Unter Lärchen
Kurzgeschichte
30. September 2024
Sie steht allein unter den Lärchen. Sie denkt, der Frühling passt nicht zu ihm. Nicht dieser Frühling. Nicht diese Lärchen. Kein Grab. Mit tauben Fingern öffnet sie ihre Zigarettenschachtel und plötzlich dringt ein Bild von ihm in ihren Kopf. Wie er lachend neben ihr steht und Ringe aus Rauch aus seinem Mund zaubert.
Ihre Augen stechen, als würden sie in die Sonne sehen. Dabei ist es neblig und kühl. Sie hat noch nicht an vielen Gräbern gestanden und wundert sich, dass die Gedanken, die sie denkt, nicht größer sind.
Hinter dem Grab liegt ein sanfter Abhang, eigentlich ein kleiner Wald, dazwischen breitet sich ein grüner Teppich aus Moos.
Früher sind sie in den Pausen über den städtischen Friedhof geschlendert. Der war ganz anders, mit engen Reihen von Gräbern. Sie haben einander die Hand gehalten und sich ausgemalt, wie es wäre, die Schule hinter sich zu lassen und nach Frankreich zu gehen.
Zum Spaß haben sie in französischem Akzent gesprochen und gelacht über das Grab des Metzgermeisters. Sie stellten sich vor, einen Ring Fleischwurst an seinen Grabstein zu hängen. Die Alten haben den Kopf über sie geschüttelt, aber das kümmerte sie nicht. Am Rand des Friedhofs stand ein Krematorium. Sie haben nie darüber gesprochen, aber es lag immer verlassen da und ab und an hat sie sich gefragt, ob es jemals in Betrieb war.
Es ist nicht so, dass sie in den letzten Jahren viel an ihn gedacht hätte. Aber wenn sie will, fällt ihr alles wieder ein.
Sie hat aus der Zeitung erfahren, dass er gestorben ist. Nach kurzer Krankheit.
Meist haben sie sich in den Weinbergen getroffen. Nicht allein, sondern mit all den anderen aus ihrer Stufe. Doch geendet haben diese Abende meist zu zweit.
Einmal wollte er ihr auf dem Heimweg zeigen, wie man ein Rad schlägt und ist – betrunken wie er war – so heftig auf den Asphalt geknallt, dass es ihm den Atem verschlug. Nach dem ersten Schreck und einer hastigen Untersuchung seiner Rippen – wonach haben sie eigentlich gesucht? – bogen sie sich vor Lachen.
Ein andermal ist sie über ein Auto gelaufen. Sie weiß nicht mehr warum. Sie weiß nur, dass sie mehr Angst vor der Höhe hatte, als davor, erwischt zu werden.
In diesem Sommer waren ihre Oberteile zu kurz oder sie saßen zu lang auf den Wiesen. Im Herbst tat ihr der Rücken weh und sie musste mit einer Nierenbeckenentzündung ins Krankenhaus. Nach der Besuchszeit setzte er sich auf die Bank vor ihrem Fenster, bis sie das Licht löschte und ihm nachsah, wie er zögernd nach Hause ging.
Sie fragt sich, warum es auf diesem Friedhof keine Bänke gibt. Überhaupt gibt es erstaunlich wenig hier, auch Gräber. Die liegen vereinzelt wie Perlen im Wald. Sie hat lang gebraucht, um das seine zu finden. Fast hätte sie aufgegeben und wäre wieder nach Hause gefahren. Die Stadt, in der er zuletzt gelebt hat, ist ihr fremd und sie ist froh, ihn gefunden zu haben.
Die Kinder, die sie seither bekommen, der Beruf, den sie seither ausgeübt, und der Mann, den sie einmal geliebt und nun seit längerem einzuordnen gelernt hat, erscheinen sehr weit von ihr abgerückt. Es ist, als hätte sie die Seiten gewechselt.
Eine Bank wäre wirklich nicht schlecht. Sie zieht ihren Mantel aus und streift ihren Pullover über den Kopf. Den breitet sie auf dem weichen Waldboden aus und setzt sich neben seinen Grabhügel. Den Mantel benutzt sie als Decke und legt ihn behutsam über ihre Beine.
Jetzt endlich zündet sie sich die Zigarette an, die sie seit einer Ewigkeit in der Hand hält.
Wie lange sind sie beste Freunde gewesen? Zwei Jahre? Und in diesen zwei Jahren haben sie einander geküsst und all dem keinen Namen gegeben und als die Zeit gekommen war und sie mit ihrem Abitur in der Tasche nichts wie wegwollten, aus dieser westdeutschen Kleinstadt, fehlten ihnen die Worte.
Manchmal hat sie von ihm geträumt. Und dann war es ihr am Morgen so, als müsste sie ihm an jenem Tag begegnen. Dann stand sie in der Reihe ihres Cafés, wartete auf ihr Getränk und bildete sich ein, er würde sie beobachten und überhaupt kam es ihr so vor, als machte alles keinen Sinn, wenn er es nicht sah. Und dann hat sie sich gefragt, ob auch er an sie denkt.
Sie greift in ihre Manteltasche und tastet nach der Kette. Sie liegt kühl und fein in ihrer Hand. Seine Mutter hat sie ihm zur Konfirmation geschenkt. Damals hatte er noch nicht in ihrer Stadt gewohnt. Erst als seine Mutter gestorben war, ist er mit seinem Vater zu dessen Eltern gezogen. Er wollte nie, dass sie ihn dort besucht. Das ist nichts für dich, hat er gesagt und gelacht. Ist es denn was für dich, hat sie gefragt und er hatte sie angesehen und den Kopf geschüttelt. Du stellst Fragen.
Im Lauf eines Abends konnte er eine Flasche Wodka trinken, wenn ihm danach war. Und ihm war oft danach. Im Rausch legte er sich in die Weinberge und zählte die Sterne. Man kann sich nicht verzählen, das ist das Gute daran, lachte er. Sie legte sich zu ihm und zählte mit.
Ihre Eltern machten sich Sorgen und trotzdem blieb sie bis zum Morgengrauen mit ihm. Ihre Mutter nahm ihn beiseite und bat ihn, wenigstens gut auf sie aufzupassen. Er versprach es. Ihr Vater wollte nicht so schnell einsehen, dass sie in der Nacht nicht nach Hause kam. Er drohte und schimpfte, schloss Türen ab und verriegelte das Gartentor und doch stieg sie hinaus, warf ihre Tasche über den Zaun und rannte lachend in den Abend.
Über die Zukunft ließ sich mit ihm nicht sprechen. Sie verstand zuerst nicht, warum und als sie immer wieder damit anfing, erzählte er ihr von dem Brustkrebs seiner Mutter, und dem Darmkrebs seiner Großmutter und dem frühen Tod seiner Tante und dem Gen, das auch bei ihm nicht richtig sei und weshalb wahrscheinlich auch er sehr früh an Krebs sterben würde.
Wer weiß schon, wann man stirbt? Niemand – und trotzdem macht man Pläne, entgegnete sie trotzig und wollte partout nicht einsehen, warum ihm das den Glauben an eine Zukunft nehmen sollte.
Was ihnen dann die Zukunft nahm, war jener Abend, an dem sie in den Weinbergen lagen, obwohl es dafür schon viel zu kalt gewesen war.
Auf dem Heimweg warf der Mann sich über sie, sie weiß bis heute nicht, woher er kam. Sie schlug hart auf dem Boden auf und spürte Blut in ihrem Mund, sie hörte die Schläge mehr auf ihrem Körper, als dass sie sie spürte und schloss die Augen, bis der Körper über ihr zusammensackte und er dastand, mit einer Wodkaflasche in der Hand, auf ihrer Haut noch Scherben lagen und sie wegrannten, bis ihr die Lunge brannte und der Schädel pochte.
An jenem Abend schenkte er ihr die Kette seiner Mutter. Er meinte, sie passe von nun an auf sie auf.
Erst zwei Tage später hörten sie von dem Toten in den Bergen. Sie dachten nicht einmal darüber nach, sich der Polizei zu stellen. Sie dachten viel mehr darüber nach, bald die Stadt zu verlassen.
Als sie dann gingen, endete nichts zwischen ihnen. Sie hielten nur einfach den Moment an. Und wenn sie ihre Eltern besuchte, war er einfach nicht mehr da und sie war nicht einmal traurig darüber. Hätten sie einander wiedergesehen, da war sie sich sicher, wäre die Vertrautheit zwischen ihnen einfach wieder eingekehrt und die Zeit dazwischen nichtig wie ein Wimpernschlag.
Sie nimmt die Kette und sieht sie lange an.
Sie sieht sein Lachen und sein liebes Gesicht. Seine dunklen Locken. Augen so blau wie das Meer.
Ein letztes Mal küsst sie die Kette und legt sie an das schlichte Kreuz, worauf sein Name steht.